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Pharmaunternehmer bedienen sich an Ökosystemen

Das Parlament, Berlin, den 30.03.2008

Im Interview mit der Zeitung „Das Parlament“ warnt Achim Steiner, Generaldirektor des UN-Umweltprogramms UNEP (United Nations Environment Programm) vor einem dramatischen Rückgang der weltweiten Artenvielfalt: „Wir müssen verstehen, dass Leben, Überleben oder Verschwinden einer bestimmten Art Konsequenzen für das gesamte Ökosystem hat. Schon jetzt haben wir eine Rate des Aussterbens, die 1000 bis 10.000-fach höher ist als das natürliche Aussterben.“

Im Vorfeld der im Mai in Bonn stattfindenden 9. UN-Biodiversitätskonferenz (CBD) übt der UN-Umweltchef scharfe Kritik an der bisherigen Rolle der Industrieländer und wirft ihnen Verantwortungslosigkeit vor: „Viele Entwicklungsländer haben seit dem Gipfel in Rio de Janeiro das Gefühl, dass sie sich auf eine Reihe von internationalen Abkommen und Verpflichtungen eingelassen haben, sie aber das, was ihnen versprochen wurde nicht erhalten haben.“ Bei der Konferenz müsse daher erreicht werden, dass sich „die großen Industrie- und Pharmaunternehmen nicht länger an den Ökosystemen der Entwicklungsländer frei bedienen.“ Steiner weiter: „Was mich frustriert ist, dass aus Teilen der Wirtschaft und der Politik heraus eine Art gesellschaftspolitischer Verantwortungslosigkeit besteht“, die den Menschen noch immer vermittele, sie bräuchten sich nicht mit neuen Fakten auseinanderzusetzen.

Europa müsse aufpassen, in der Klimapolitik nicht den Anschluss zu verlieren, „in den USA ist eine enorme Welle an Forschung und Investitionen im Gang“, erklärt der UN-Umweltchef gegenüber „Das Parlament“. Unterdessen sei in China „die Umweltkrise so dramatisch geworden, dass selbst auf oberster Ebene politisch und wissenschaftlich verstanden wird, dass hier Handlungsbedarf besteht.“

Für 2009 fordert Steiner „ein neues Rahmenabkommen zu Kyoto“, dabei stünden Klimawandel und Artenvielfalt nicht in einem Konkurrenzverhältnis, sondern bedingten sich gegenseitig. Die Menschen spüren, dass es nicht um eine abstrakte Bedrohung gehe, sondern dass „wir uns an einem Punkt befinden, an dem wir wirklich unseren Wohlstand aber auch die Lebensgrundlagen unserer Kinder riskieren.“

____________Interview:

Ende Februar wurde in Norwegen ein Lager für Samen von bis zu 4,5 Millionen Nutzpflanzen eröffnet – scherzhaft „Tresor des jüngsten Gerichts“ genannt. Zeichen des Fortschritts oder Science Fiction-Vision?

Es ist ein ernüchterndes Ereignis, wenn sich die Welt so einen Tresor für nachkommende Generationen schaffen muss. Andererseits ist es aber auch ermutigend, weil es zeigt, dass die Welt begriffen hat, dass sie die Artenvielfalt, die wir heute auf diesem Planeten haben, nicht riskieren kann. Aber es ist eine Illusion, dass man das genetische Material, das diesen Planeten ausmacht, sozusagen ins Fach legen könnte.

Schätzungsweise gibt es weltweit 10 bis 30 Millionen Arten, nur zwei Millionen sind bekannt. Die Weltnaturschutzunion (IUCN) hat herausgefunden, dass pro Jahr rund 16.000 Tier und Pflanzenarten vom Aussterben bedroht sind. Ist die biologische Vielfalt wirklich bedroht?

Wir müssen verstehen, dass Leben, Überleben oder Verschwinden einer bestimmten Art nicht nur mit einer Art verbunden ist, sondern Konsequenzen für das ganze Ökosystem hat. Nun ist es für den Menschen schwer zu verstehen, ob der Verlust eines Frosches oder eines Wurmes unbedingt geschichtsträchtig ist, aber nicht die Einzelart selbst, sondern das Gesamtspektrum ist wichtig. Daher haben wir auch den Begriff der Biodiversität entwickelt – die Artenvielfalt.

Artensterben hat es doch aber in der Evolution schon immer gegeben?

Wir haben jetzt schon eine Rate des Aussterbens, die 1.000 bis 10.000-fach höher ist als die so genannte „Hintergrundrate“, mit der ein „natürliches“ Aussterben in der Evolution bezeichnet wird. Was wir heute erleben, ist ein Massenaussterben. Aber wir sind an einem Punkt, an dem wir noch nicht einmal verstehen, wie wichtig viele Bestandteile dieser Artenvielfalt sind. Ich sehe daher eine zentrale Herausforderung: den Menschen die Biodiversität nahe bringen, selbst wenn deren Bedeutung einer Einzelperson nicht unbedingt bewusst ist.

Was sind konkrete Beispiele für den Verlust von biologischer Vielfalt?

Wir haben beispielsweise ein massives Problem mit eingeschleppten Arten, den so genannten invasive aliens. Am Kap bei Südafrika sind zum Beispiel australische Buschpflanzen eingeführt worden, die heute die gesamte lokale Vegetation verdrängen. Sie wachsen schneller und verhindern dadurch das langsamere Wachstum lokaler Pflanzen.

Trotzdem reden nur wenige von der biologischen Vielfalt, aber alle vom Klimawandel. Warum?

Ich glaube der Klimawandel hat in der öffentlichen Diskussion eine zentrale Rolle eingenommen, weil er durch neue Erkenntnisse so akut geworden ist und wir zudem erstmals merken, dass dieses Phänomen unsere wirtschaftliche Handlungsfähigkeit bedroht. Das Investieren in natürliche Ressourcen ist Kern der Strategie mit Klimawandel umzugehen. Deswegen ist es enorm wichtig, den Menschen vermitteln zu können, dass Biodiversität nicht in einem Konkurrenzverhältnis zum Klimawandel steht, sondern sie sich gegenseitig bedingen.

Welche Möglichkeiten gibt es, sowohl die Biodiversität zu fördern als auch dem Klima zu helfen?

Nehmen wir das Beispiel Wasser: Allein im Himalaya werden wir in den nächsten 30 Jahren der Großteil der Gletscher schmelzen. Das heißt, der gesamte Wasserhaushalt gerät durcheinander. Deshalb müssen wir heute schon weltweit mit dem Management von Wasser beginnen – Feuchtgebiete sind dabei ein enorm wichtiger Bestandteil, um sowohl Wasserstaukapazitäten zu schaffen als auch Natur und Artenvielfalt erhalten zu können. Zweitens müssen die Investition in Schutzgebiete erhöht werden, um die Funktionalität dieser natürlichen Systeme vor der blinden Entwicklung der letzten Jahrzehnte zu schützen.

Der Weltklimarat IPCC hat verschiedene Zukunftsszenarien erarbeitet, mit dem Klimawandel umzugehen. Sie sind zwar kein Prophet: Welches Szenario halten Sie für 2020 am wahrscheinlichsten?

Ich arbeite auf der Basis, dass wir 2009 ein neues Rahmenabkommen zu Kyoto finden werden. Ich bin der Überzeugung, weder die Menschen noch die Wirtschaft werden letztendlich tolerieren, dass die Politik weiterhin hier nicht handelt. Ich glaube, das Historische an diesen Verhandlungen wird sein, dass wir zum ersten Mal ein effektives Abkommen mit bis zu 195 Ländern abschließen müssen, um auf diesem Planeten wirklich weiterleben zu können.

Die Menschen spüren, dass wir hier nicht über eine abstrakte Bedrohung sprechen, sondern, dass wir uns an einem Punkt befinden, an dem wir wirklich unseren Wohlstand aber auch die Lebensgrundlagen für unsere Kinder riskieren.

Haben Sie den Eindruck, dass sich die Menschen weltweit der Problematik bewusst sind?

Natürlich hängt die Fähigkeit des Einzelnen, die Gesamtzusammenhänge zu verstehen, davon ab, inwieweit die Menschen überhaupt Zugang zu Informationen haben. Das Bewusstsein und auch das Interesse, diese Diskussion aktiver zu führen, ist jedoch in allen Ländern enorm gewachsen. Man muss sich immer wieder fragen, warum haben wir im Westen das Vorurteil, dass in China oder in den USA ein Desinteresse vorhanden ist. Das stimmt einfach nicht. In China ist die Umweltkrise inzwischen so dramatisch geworden, dass selbst auf oberster Ebene es nicht nur politisch, sondern auch wissenschaftlich verstanden wird, dass hier Handlungsbedarf besteht. Er wird letztlich ausschlaggebend dafür sein, ob China eine langfristige wirtschaftliche Entwicklung erlebt oder in immer mehr Krisen gerät – aufgrund der Umweltzerstörung.

Der „Stern-Report“ hat 2006 die wirtschaftlichen Folgen der globalen Erwärmung evaluiert. Sollte es das nicht auch für die Biodiversität geben?

Ein solcher Bericht entsteht gerade und wird bei der Vertragsstaatenkonferenz in Mai 2008 in Bonn vorgestellt. Er soll mit einem Bericht von UNEP verknüpft werden, der das Verhältnis von Umwelt und Volkswirtschaft in den nächsten zwei Jahren neu aufarbeiten soll. Wir müssen die wirtschaftlichen Instrumente schärfen, mit denen wir Verlust und Gewinn der Artenvielfalt bewerten können.

Der Klimawandel und die Energiediskussion haben gezeigt: Wir können es uns sehr wohl leisten, eine Transformation in Energiesystemen und Infrastrukturen herbeizuführen, ohne dass unsere Wirtschaft großen Schaden nimmt. In vielen Bereichen wird sie sogar effizienter und damit effektiver.

Im vergangenen Jahr hat Europa viel für den Klimaschutz getan. Sind jetzt nicht andere Industriestaaten gefordert?

Europa muss aufpassen, dass es sich nicht zu lange auf seinen Lorbeeren ausruht, in der Klimapolitik eine politische Führungsrolle gespielt zu haben. In Amerika ist eine enorme Welle an Forschung und Investitionen im Gange.

Wie wollen Sie die UN-Konferenz zur Biodiversität (CBD) zum Erfolg führen?

Das größte Hindernis, um bei der Biodiversität weiterzukommen, ist im Augenblick, das Vertrauen zwischen Entwicklungs- und Industrieländern zu verbessern. Viele Entwicklungsländer haben seit dem Gipfel in Rio de Janeiro das Gefühl, dass sie sich auf eine ganze Reihe von internationalen Abkommen und Verpflichtungen eingelassen haben, sie aber das, was ihnen versprochen wurde, nicht erhalten haben.

Fühlen sich die Entwicklungsländer über den Tisch gezogen?

Ja, sie fühlen sich im Grunde ausgenutzt. Deswegen sah man in den vergangenen fünf bis acht Jahren, bei vielen Entwicklungsländern diese nach außen hin schwer nachvollziehbare Skepsis gegenüber umweltpolitischen Initiativen. Was überhaupt nicht im Verhältnis zu dem steht, was häufig national läuft. Auf der CBD soll deshalb erreicht werden, dass die Entwicklungsländer stärker beteiligt werden. Es muss vermieden werden, dass sich die großen Industrie- und Pharmaunternehmen an den Ökosystemen der Entwicklungsländer frei bedienen, sich das Wissen patentieren lassen, aber nicht den wirtschaftlichen Nutzen angemessen teilen. Hier ist das Ineinandergreifen von Wirtschafts- und Umweltpolitik unabdingbar, denn es schafft erst den finanziellen Anreiz für den Schutz der Biodiversität.

Es gibt aber noch ganz andere Hindernisse für nachhaltige Entwicklung: Ein Großteil der Weltbevölkerung lebt schließlich von der Landwirtschaft...

Landwirtschaft ist manchmal ein politisch sehr emotional besetztes Feld. Aber wir haben auch in den vergangenen Jahren in Europa erlebt, dass sich Landwirtschaft positiv verändern kann. Zur Zeit erleben wir ja gerade das Phänomen explodierender Agrarpreise: Dafür gibt es viele kurzfristige Deutungen und schwierige Anpassungsprozesse. Mittelfristig würde ich sagen, dass wir uns einem realistischeren Preis nähern, der es uns ermöglicht, wachsende Agrarproduktion und Bedarf mit dem Prinzip der Nachhaltigkeit zu vereinbaren.

Sie werden täglich mit Horrorszenarien konfrontiert. Verzweifelt man da nicht manchmal?

Das wunderschöne an meiner Aufgabe als Exekutivdirektor von UNEP ist, dass ich weltweit einen Eindruck bekomme, wie das Genie Mensch mit den Herausforderungen umgeht. Der Grund warum ich mich einmal als „frustrierten Optimisten“ bezeichnet habe: Menschen beweisen tagtäglich überall auf der Welt, dass ein anderer Weg machbar ist. Nur er muss gesellschafts- und wirtschaftpolitisch ermöglicht, ermutigt und unterstützt werden. Wir sind eben am Beginn des 21. Jahrhunderts zum ersten Mal damit konfrontiert, dass die Vernachlässigung der Umwelt in den Kern unserer zukünftigen Entwicklungen hineinreicht. Wir sind keine Lemminge, sondern fähig, intelligent und vorausschauend zu handeln. Von daher bin ich Optimist.

Ist das nicht etwas zu idealistisch?

Aus Idealismus schöpft man Kraft und Mut. Es ist nicht gleichzusetzen mit Naivität. Was mich frustriert ist, dass aus Teilen der Wirtschaft und der Politik heraus eine Art gesellschaftspolitische Verantwortungslosigkeit besteht, die den Menschen noch immer vermitteln will, sie bräuchten sich nicht mit neuen Fakten und Realitäten auseinanderzusetzen. Kernauftrag meiner Arbeit und der von UNEP ist deshalb, den Mythos, Wirtschaftspolitik und Umweltpolitik widersprächen sich, aufzulösen. Für unsere Zukunft auf diesem einmaligen Planeten ist das genaue Gegenteil der Fall.

Das Interview führten
Sebastian Hille und Annette Sach

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