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Ministerin Schmidt: "Pflege-Riester" sei möglich

Berlin, den 26.07.2008

Interview für "DAS PARLAMENT"
(Erscheinungstag: 28. Juli 2008)


Schmidt hält „Pflege-Riester“ für möglich – Vorrang räumt sie aber der Einführung einer Bürgerversicherung ein – Raffelhüschen sieht mit Pflegereform Chance vertan

Der Freiburger Finanzwissenschaftler Bernd Raffelhüschen kritisierte in „Das Parlament“ die Pflegereform. Mit der Beibehaltung des bestehenden Systems werde „endgültig die Chance vergeben, einen kostengünstigen Umstieg in die Kapitaldeckung zu realisieren“, hob der Professor in einem Gastbeitrag hervor. Kostengünstig wäre der Umstieg aus seiner Sicht heute noch zu bewältigen, da „kein Jahrgang darauf pochen kann, bereits ein Leben lang Beiträge geleistet zu haben“. Dagegen unterstützte der Gesundheitsökonom Heinz Rothgang die Forderungen von Schmidt. Neue Finanzierungsquellen müssten im Rahmen der umlagefinanzierten Sozialversicherung erschlossen werden, sagte der Professor von der Universität Bremen. Er forderte in einem Gastbeitrag unter anderem die Einbeziehung der bislang privat Pflegeversicherten.


Das Interview mit Ulla Schmidt im Wortlaut:
Frau Schmidt, die Pflegereform ist seit 1. Juli in Kraft. Was ist für Sie als Bundesministerin die zentrale Neuerung?
Eine der zentralen Verbesserungen ist, dass wir mit den Pflegestützpunkten die Pflegeberatung dahin bringen, wo die Menschen wohnen. Damit helfen wir den Menschen, sich schnell über die Strukturen und Angebote zu informieren und sich im Pflegefall besser zurechtzufinden. So kann zum Beispiel der persönliche Fallmanager beim Antrag für einen Wohnungsumbau helfen. Das stärkt die häusliche Pflege. Außerdem haben wir die Leistungen für Menschen mit Demenz verbessert und machen damit einen weiteren Schritt weg von der rein körperbezogenen Pflege hin zu einem ganzheitlichen Betreuungsansatz.

Die körperbezogene Pflege, wie sie bisher noch gilt, wird es künftig also nicht mehr geben?
Derzeit wird darüber nachgedacht, wie der bisherige Pflegebedürftigkeitsbegriff sinnvoll weiterentwickelt werden kann. Wir haben dazu einen Beirat aus Wissenschaftlern und Verbänden einberufen. Dieser hat Vorschläge erarbeitet, nach denen sich die Feststellung der Pflegebedürftigkeit – die ist Voraussetzung der Leistungsgewährung – in Zukunft am Grad der Selbstständigkeit der pflegebedürftigen Person orientieren soll. Die Vorschläge werden derzeit in verschiedenen Regionen erprobt. Im November soll der Abschlussbericht vorgelegt werden.

Sie sprachen die Pflegestützpunkte als großes Plus der Reform an. Kritiker sprechen von aufgeblähten Doppelstrukturen. Sehen Sie da kein Problem?
Nein. Diese „Argumente“ waren immer vorgeschoben. Von Anfang an haben wir die Stützpunkte so gedacht, dass sie auf vorhandenen Strukturen in der ganzen Vielfalt aufbauen, und Doppelstrukturen gerade vermieden werden. Nehmen Sie mal Rheinland-Pfalz, ein vorbildlich strukturiertes Land in diesem Bereich, in dem es bereits wohnortnahe Koordinierungs- und Beratungsstellen gibt. Die haben sofort gesagt: „Ja, wir wollen die Pflegestützpunkte. Weil das der nächste Schritt ist, wie wir unsere Koordinierungs- und Beratungsangebote ausbauen können.“ Es geht ja auch um mehr als eine bloße Beratung, es soll ein Fallmanagement aufgebaut werden.

Was genau verstehen Sie darunter?
Es geht vor allem um die Unterstützung und Begleitung. Wenn schon die Familien die Kraft aufbringen, sich um einen Pflegefall zu kümmern, soll der persönliche Fallmanager den Pflegebedürftigen und ihren Familien alles abnehmen, was mit Organisation zu tun hat. Die Pflege selbst wird immer eine große Aufgabe für die Familien bleiben. Aber das Telefonieren, das Ausfüllen von Anträgen, der Zugang zu den Angeboten von Pflegeversicherung und Kommunen, all das können wir erleichtern. Deswegen werden sich die Stützpunkte am Ende in allen Bundesländern durchsetzen.

Sie wollen also den „mündigen Pflegebedürftigen“?
Ja. Die Menschen wollen selbstbestimmt leben. Die Pflegereform greift dieses Ziel auf. Jetzt können Menschen, die beispielsweise in einer Wohngemeinschaft oder Alten-WG leben, ihre Leistungen zusammenlegen und sich gemeinsam professionelle Hilfe einkaufen. Das können auch Menschen machen, die einfach in der Nachbarschaft – etwa in einer Straße – leben, ohne zusammen zu wohnen.

Glauben Sie, die Alten-WG wird zum Zukunftsmodell?
In Umfragen sagen etwa 65 Prozent der Menschen, sie möchten gerne in der eigenen Wohnung bleiben. 25 Prozent möchten auf jeden Fall in ihrem Wohnviertel bleiben und mit anderen zusammenwohnen. Auf der anderen Seite wohnen immer weniger Kinder nah bei ihren Eltern. Um die „klassische“ Familie zu ersetzen, braucht es Alternativen, durch nachbarschaftliches Engagement oder eben auch durch Wohngemeinschaften.

Wenn es ambulant aber nicht mehr geht, kommt das Heim ins Spiel. Künftig wird es unangemeldete Kontrollen geben. Wichtig ist vor allem unsere Neuregelung, dass alle Prüfberichte in verständlicher Form veröffentlicht werden müssen. Jedes Heim muss darüber hinaus eine Zusammenfassung an gut sichtbarer Stelle öffentlich aushängen. Bis Ende September wird über die Kriterien dazu entschieden, und auch, ob die Ergebnisse dann in einem Ampelsystem oder einem Sternesystem zusammengefasst werden. Es muss ein System sein, bei dem man sofort sieht: Wie waren die Prüfergebnisse? Davon verspreche ich mir die meiste Dynamik in Richtung mehr Qualität. Weil die Menschen nirgendwo hingehen, wo steht: „Hier war es schlecht.“

Müssen sich auch die Kontrollen der Heime verändern?
Die sollen sich künftig schwerpunktmäßig auf den pflegebedürftigen Menschen, die Ergebnisse der Pflege und weniger auf Papierprüfungen konzentrieren. Die Menschen müssen beachtet, befragt und angeschaut werden: Sind sie zufrieden, sind sie gut genährt, haben sie genug zu trinken, stimmt das ganze Drumherum?

Schrecken Sie die Nachrichten von den Missständen im Heim? Muss die Politik nicht noch mehr tun?
Politik kann rechtswidriges und menschenunwürdiges Handeln sicherlich nie völlig verhindern, aber wir können mit dem Gesetz dem soweit wie eben möglich entgegenwirken. 2,2 Millionen Menschen bekommen Leistungen aus der Pflegeversicherung, es gibt rund 11.000 stationäre Einrichtungen, 10.000 ambulante Dienste sowie die private Pflege zuhause. Niemand kann eine 100-prozentige Garantie dafür abgeben, dass nie etwas passiert. Ich erhoffe mir auch bessere Qualität durch mehr Heimärzte in den Einrichtungen.

Sie sagen, die Finanzierung der Pflegeversicherung ist bis 2015 gesichert. Kanzlerin Merkel regte jüngst für die Zukunft ein Nachdenken über die Kapitaldeckung für die Pflege an. War es klug, an der Umlagefinanzierung festzuhalten?
Die jetzige Erhöhung um 0,25 Prozentpunkte bringt 2,5 Milliarden Euro im Jahr. Mit dieser Anhebung kommen wir nach Expertenmeinung bis Ende 2015 hin. Dann muss über eine Änderung neu entschieden werden. Entweder man hebt dann die Beitragssätze erneut an oder man schafft endlich in der Pflege eine Bürgerversicherung. Die Pflege- ist bereits eine Volksversicherung, es gibt keinen Unterschied zwischen den Leistungen für gesetzlich und privat Versicherte. Auf der Einnahmeseite klafft da allerdings eine riesige Ungerechtigkeitslücke. Würden alle Menschen in diesem Land 1,95 Prozent von ihrem Einkommen in die gesetzliche Pflegeversicherung zahlen, hätten wir mit dem jetzigen Leistungsumfang bis weit in das Jahr 2030 hinein Sicherheit.

Warum ist das nicht so gekommen?
Das war mit der Union nicht zu machen.

Der Wirtschaftsweise Bert Rürup rät zu einem „Pflege-Riester“, das heißt, heute Berufstätige sollen sich staatlich gefördert privat an künftigen Pflegekosten beteiligen. Was halten Sie davon?
Das hätte man schon machen können, aber durch das Ansteigen der Preise beispielsweise für Energie und Lebensmittel ist es den Menschen schwer zu vermitteln, noch mehr Geld beiseite zu legen. Man sollte zunächst mal die solidarischen Möglichkeiten dieses Landes nutzen.

Wird das ein Wahlkampfthema?
Die Bürgerversicherung auf jeden Fall, in der Pflege- wie in der Krankenversicherung. Wir leisten uns eine Trennung der Systeme wie kaum ein anderes Land nach Status, Risiken und Geld – das ist überholt.

Frau Ministerin, wie wollen Sie denn mal gepflegt werden?
Nun, ich hoffe wie alle, dass es überhaupt nicht nötig wird. Aber wenn, dann zuhause. Dann möchte ich gerne, dass meine Angehörigen in der Nähe sind, und wir das organisiert bekommen. Ich zahle ja auch in die Pflegeversicherung ein.

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