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„Leben – wozu?“: die Gefährdung der Seele


Holbrock hat Krebs und nur noch zwei Jahre zu leben. Nach einem Suizidversuch wird er in einer psychiatrischen Klinik behandelt. Der Arzt und Professor für Psychiatrie Günther Ritzel schildert seinen Weg zurück ins Leben.

Von Monika Thees

Er hatte vom Leben Abstand genommen. Nicht plötzlich, sondern langsam vollzog sich der Rückzug, unmerklich fast, schleichend. Die Veränderung nahm sich Zeit, kam nicht mit Wucht, nicht mit Gedröhn und auf einen Schlag, es waren viele Tage, lange, einsame, stille Stunden, in denen seine Mutlosigkeit wuchs. Zunächst der Tod seiner Frau Anna - er hatte sie aufopfernd gepflegt, sie begleitet bis zum letzten Tag -, dann, ein Vierteljahr später, ein akuter, lebensbedrohlicher Harnstau, und nach der Not-OP, bei der die Wucherung in der Prostata entfernt wurde, geriet es zur Gewissheit: Das Karzinom hatte in seinem Körper gestreut, es gab Metastasen in den Lymphknoten und in den Knochen, es war ausweglos - Dr. Thomas Holbrock hatte noch zwei Jahre zu leben, allerhöchstens. Ist das viel, ist das wenig?, fragte er. Und: Leben - wozu?

Die Tage wurden dunkler, sie wurden zu Blei. Sein Hausarzt verschrieb ihm ein Antidepressivum, einen ärztlich vermittelten Termin in einer psychiatrischen Praxis ließ Holbrock ungenutzt, stattdessen fährt der 64-Jährige nach Sylt, besorgt sich auf der Rückfahrt Schlaftabletten und Psychopharmaka, mit und ohne Rezept, hier und dort, meist ohne Nachfrage, ohne Verdacht. Anfangs zögert er noch, doch der Entschluss drängt: An einer Staumauer im Harz parkt Holbrock schließlich den Wagen, schluckt einen Großteil der gehorteten Tabletten mit etwas Wasser und nähert sich wankend dem Abgrund – er will seinem Leben ein Ende setzen, selbst den Zeitpunkt seines Todes bestimmen, scheinbar autonom, frei, im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte. Wer sollte ihn hindern? Er hat sich entschieden.

Doch – es ist Schicksal, Zufall? – zwei Passanten fassen Holbrock vor dem Sprung in die Tiefe, ziehen ihn zurück an Land, ins Leben. Er wird in die Notfallambulanz gebracht und nach einigen Tagen auf der Intensivstation wegen akuter Suizidgefährdung in die geschlossene Abteilung der Psychiatrie verlegt: Hinter Sicherheitsglas und mit einer studentischen Sitzwache vor dem Zimmer beginnt für Holbrock der Kampf gegen die lastende Depression, gegen den Wunsch, zu sterben, ein mühsamer Weg zurück: in ein Leben, das noch nicht abgeschlossen ist, das vor ihm liegt. Hier in der Hainbuchenstraße, mit Hilfe der Ärzte, Pfleger, Therapeuten, in einer der über zwanzig Stationen des „Zentrum für Psychiatrie und Psychotherapie“ geht Holbrock erste Schritte zurück ins Leben, mit seiner Krankheit, mit der Gewissheit seines Krebstodes, mit und unter Menschen.

„Unter Menschen“ nennt Günther Ritzel seinen Roman. Ruhig und prägnant erzählt der langjährige Ärztliche Direktor der Psychiatrischen Klinik Hildesheim die Geschichte Holbrocks und seiner Erkrankung. Sie ist fiktiv, aber sie könnte sich so oder ähnlich ergeben haben, wie alle Geschichten, die Ritzel schildert und miteinander verknüpft. Sie sind individuell, einmalig und stehen doch stellvertretend für die eine große: die Gefährdung, aber auch Unzerstörbarkeit der menschlichen Seele. Sie handelt von Eugen Busche, der im Wahn, an Aids erkrankt zu sein, mit einem Küchenmesser auf seine Frau einsticht, danach auf sich selbst und sich aus dem Fenster zu stürzen versucht. Von einem Vietnamesen, der an einer schizophrenen Psychose leidet, von der jungen Marie-Luise, die bei ihrer Ankunft in der Klinik verkündet: „Und heute gehört auch meine Seele nicht mehr zu mir, sie verlor ihre Heimat.“

Ein Filter umgibt Holbrock, hinter der Mauer aus Angst, Verzweiflung ist er gefangen im Netz der Krankheit, sie macht nicht frei, sie engt ein. Der Suizid infolge einer psychischen Erkrankung ist kein „Freitod“, keine autonom getroffene Entscheidung, nicht selbstbestimmt und frei gewählt, sondern das Diktat einer eingeschränkten Selbstwahrnehmung. Nach offiziellen Angaben nehmen sich in Deutschland jährlich ca. 10 000 Menschen das Leben, die Dunkelziffer ist hoch, die Zahl der Suizidversuche noch höher. Aus Sicht der Medizin ist der Suizid in den überwiegenden Fällen, die Zahlen gehen bis zu 90 %, das Symptom einer Depression oder einer verwandten psychischen Störung, darunter Suchterkrankungen, Persönlichkeitsstörungen, schwere Lebenskrisen.

Günter Ritzel hat über vierzig Jahre lang Menschen in der Psychiatrie behandelt, er befasste sich wissenschaftlich mit dem Problemkreis Kliniksuizid und forensische Psychiatrie, er weiß um die Lebensläufe, die Anamnesen und Krankheitsbilder, die tiefen Verletzungen der Seele und die Stärke, die daraus erwachsen kann, sich diesem Dunkel zu stellen – als Arzt, als Mensch, der Empathie empfindet, als Fachmann, der Therapieverfahren, Krankheitsverläufe kennt, hochpotente Psychopharmaka der neuen Generation und auch die Vorbehalte, die unseren Blick auf die Psychiatrie bis heute prägen. Als Professor für Psychiatrie schrieb er Gutachten, wissenschaftliche Berichte, Studien und wählte nun, nach langen Jahren der beruflichen Arbeit im Ruhestand, die Form des Romans, um exemplarisch einige Schicksale vorzustellen, sie als fiktive Figuren zu formen und ihre Darstellung mit eigenen Gedanken und Wertvorstellungen zu verbinden.

„Unter Menschen“ erzählt nicht aus der Innenperspektive Holbrocks, der Roman wählt die ruhige Sprache des Beobachters, eine Sprache, die nicht wertet, sondern anteilnehmend beschreibt, begleitet, was Dr. Thomas Holbrock, Eugen Busche, Marie-Luise und all ihren Mitpatienten an einem Wendepunkt ihres Lebens widerfährt und wie sie gemeinsam dessen gewahr werden, was die schwer depressive Marianne Thalbach in einen kurzen, einprägsamen Satz fasst: „Einem Menschen kann nur ein anderer Mensch helfen.“ Nur durch das Aufeinander-Zugehen, gegenseitige Achtung und Verstehen lässt sich das eigene Leben mit seiner Krankheit, Angst und Verzweiflung, aber auch mit seiner Freude, Hoffnung und Erfüllung annehmen und gestalten. Holbrock bleiben noch zwei Jahre. Wozu? Zu dem, was er daraus macht, machen kann. „Vielleicht liegt der Sinn darin, dass diese zwei Jahre noch von Ihnen gelebt werden“, antwortet der Arzt auf Holbrocks Frage, weshalb sie ihn in der Klinik wegen seiner Depressivität und Suizidalität behandeln.

Eine psychische Erkrankung kann jeden treffen, niemand ist gefeit. Jede schwere körperliche Erkrankung, der Verlust eines geliebten Menschen, ein Schicksalsschlag, berufliche Krisen oder Partnerschaftskonflikte können ihren Ausbruch provozieren, in welcher Form auch immer – bis zum Suizid, zur Selbst- oder Fremdgefährdung. Das ist keine Schwäche, kein Versagen, keine Schuld. Günther Ritzel macht Mut, den Betroffenen, weil es gute Heilungschancen gibt, den anderen, weil er um Verständnis wirbt und Vorurteile abbaut. Dass er als Arzt die Form des Romans wählte, mit erzählerischen Spannungs-, Überraschungselementen und einem, ja auch, versöhnlichen Schluss, mag ungewöhnlich sein, aber nur auf den ersten Blick, auf den zweiten ergibt sich ein genauer und sehr detaillierter Blick hinter die Türen dessen, was uns im Alltag zumeist verschlossen bleibt: das weite Feld der Psychiatrie und ihre zutiefst menschlichen, sehr vielgestaltigen Fragen, die den Kern dessen treffen, was unser Menschsein ausmacht, die Freiheit.

RITZEL, GÜNTHER: Unter Menschen. Roman. Erwin Friedmann Verlag, München 2009. 294 S., 19,80 Euro.

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