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Verloren in der Leere

Der Augenblick, in dem der Zauber dahin ist.

María Sonia Cristoff. Berenberg Verlag.

María Sonia Cristoff erkundet die Fantasmen der Seele. In der Ödnis Patagoniens nimmt sie teil an den Erzählungen der Einheimischen und Zugereisten, folgt ihren einsamen, irrlichternden Wegen und spiegelt diese in eindringlichen „Reportagen vom Ende der Welt“.

von Monika Thees, 4.10.2010

In der Kindheit waren Flugzeuge sein Ein und Alles. Francesco stand am Fenster der elterlichen Wohnung, spürte, wie die außen angebrachten Eisenstäbe vom Lärm der Flugzeuge vibrierten und ein Zittern seine kleinen Hände ergriff. Er glaubte, dass das ohrenbetäubende Gedröhn der Flugzeuge, die vom nahem Stützpunkt der Luftwaffenschule starteten, eine geheime, nur für ihn bestimmte Botschaft enthielt. Sie hatte mit Glauben, Schicksal und Opfer zu tun, ganz sicher war er sich damals nicht. Erst Jahre später, hier im abgelegenen Santa Cruz, als er schon lange als Mechaniker im Dienst der staatlichen Ölgesellschaft YPF stand, erblickte er mit Kollegen auf einer Wartungsfahrt den in der Sonne glitzernden Blechschuppen – und die Piper PA 12, die im Inneren stand, unberührt. Für die anderen war es ein Zufallsfund, für Francisco nicht. Sie wurde seine Bestimmung.

Erst seit Ende der 1960er Jahre gab im Süden Argentiniens einen nennenswerten Flugverkehr. „Allmählich wurden die Flugzeuge [...] zum Verbündeten der Bewohner Patagoniens in ihrem Kampf gegen das von der Welt Abgeschnitten-Sein“, schreibt María Sonia Cristoff. Die Journalistin und Autorin bulgarischer Abstammung, 1965 in Trelow, Patagonien geboren und heute in Buenos Aires lebend, ist zurückgekehrt in das Land ihrer Kindheit, eines der unendlichen Weite und Abgeschiedenheit. Sie sitzt in der Werkstatt des alten Francesco, von der Decke hängen über zehn verschiedene Flugzeugmodelle, eine Superstar 40, eine Picurú, eine Piper Cherokee, eine Piper PA 40. Die schmale, zartgliederige Frau lauscht der Lebensgeschichte, hört von Francescos Flugstunden, von der Faszination des Fliegens, allein, mit Kompass und Höhenmesser, und des Momentes, wo alle Zahlen und Anzeigen Teil eines Codes wurden, der ihm erlaubte, sich einer Situation hinzugeben, „in der er sich nichts mehr erwartete und auch nichts mehr brauchte“.

Es sollte ein Buch werden über die Einsamkeit, sagte Cristoff anlässlich einer Gesprächsreihe im Berliner Haus der Kulturen der Welt am 3. Oktober 2010, eine Wiederbegegnung mit der Region ihrer Heimat, eine Recherchereise in die nur dünn besiedelten Gebiete im Süden des Landes: weite, baumlose Flächen, trockene Ebenen, über die stetig der Wind tost. Hier traf sie Menschen, die gestrandet waren, die irgendwoher kamen, irgendwie verloren gingen in der „trügerischen Ruhe“ („Falsa calma“, der Titel der Originalausgabe 2005, gibt diese Grundstimmung treffender wieder als die deutsche Übertragung). Ohne festen Plan fuhr Sonía Maria Cristoff durch unbekannte Flecken wie Cañadón Seco, El Caín, El Cuy oder Maquinchao oder in die Kleinstadt Las Heras, allesamt „Geisterstädte“ fernab der befahrenden Routen. Sie wartete stundenlang auf den Bus, schlief in einer Schule, wanderte allein über die fast menschenleere Ebene, aß und sprach mit Menschen, die kaum einer fragt, deren Geschichten meist ungehört im nie innehaltenden Wind verhallen.

Allgegenwärtig scheint die Trostlosigkeit der patagonischen Weite, eines Lebensraumes, „der den Regeln eines Alptraums unterworfen schien, in dem ich gehen konnte, so lange und so weit ich wollte, ich bewegte mich nicht von der Stelle“, schreibt Cristoff. „Fin del mundo“, Ende der Welt, so nannten die spanischen Eroberer den südlichsten Teil des amerikanischen Kontinents. Rau, gleichwohl wunderschön, doch abweisend erlebten die großen Reisenden, darunter Charles Darwin und Bruce Chatwin, die Weiten der Pampa, die bizarren Gebirgsformationen, die majestätische Größe von Los Glaciares oder der Wasserfälle des Río Iguazú. Doch wo für den Außenstehenden Magie und Mythos beginnen und eine „grandiose Natur“ den heutigen Ferntouristen lockt, gefriert der Alltag für die hier ins Abseits Geratenen zu stockendem Traum, schmerzlicher Sehnsucht oder dem lähmenden Gefühl des Entrückt- wenn nicht gar Vergessenseins.

„Wenn man daran denkt, dass ich bloß für eine Woche zurückgekommen war und dann für immer da blieb“, sagt Léon, der in Cañadón Seco einen der zwei noch bestehenden Läden betreibt und reglos vor sich hin starrt. Früher, als kamen täglich zwei- bis dreihundert Kunden, alle arbeiteten für die staatliche Ölgesellschaft YPF, heute sind es an den besten Tagen gerade mal zehn. Sie wisse nicht zufällig, wie man Schizophrenie heilen könne, fragt er unvermittelt die auf den Bus wartende Cristoff, die Diagnose habe er schon vor einigen Jahren erhalten, eigentlich sei es ihm egal, wie man es nenne, er möchte nur wissen, wie man die täglich wiederkehrende Beklemmung in der Brust lindern kann. Später kommt Léons Frau Angélica hinzu. Sie arbeitet außerhalb des Ladens als Buchhalterin, daneben liest sie viel und schreibt, am meisten und liebsten über das Verrücktsein. Was genau dahinterstecke, möchte sie herausfinden, denn das Verrücktsein sei auf jeden Fall eine andere Welt, und da gelten ganz andere Regeln.

Regeln und Maßstäbe ganz eigener Art gelten auch für Sonia María Cristoffs „Reportagen“, die von Peter Kultzen exzellent ins Deutsche übertragen wurden. Nach „Acento extranjero“, einer 2000 erschienenen Anthologie historischer Reiseberichte, und „Patagonia“, 2005 veröffentlichten Porträts verschiedener Autoren über den Süden Argentiniens, versammelt der Band „Patagonische Gespenster“ zehn eindringliche Texte von bestechend literarischer Qualität. „Narrative non fiction“, zu Deutsch literarische Reportage, sind die Studien zu nennen, die, unterlegt mit Zitaten aus Cristoffs soziologisch-historischer Reiselektüre und eigenen Reflexionen, ein zutiefst eindringliches Bild Patagoniens und darüber hinaus Argentiniens zeichnen. Durch die Hintertür, die zuweilen abseitigen und tragisch verzweifelten Lebensläufe ihrer Protagonisten, eröffnet sich der Zugang zu einem Dasein im Abseits, am Rande der Welt. Verdichtet zu eindringlichen Porträts erhalten die Menschen, die María Sonia Cristoff zufällig traf, eine Stimme und damit währende Existenz.

Francesco berichtet vom tödlichen Flugzeugabsturz seines Sohnes Gustavo, mit genau jener Piper PA 12, welche der Vater im Blechschuppen fand. Er erzählt von seiner Ehe, die schweigsam wurde, vom Groll seiner Frau, von seiner Flucht in die kleine Werkstatt hinter dem Haus. „Während ich dort herumsaß und eigentlich nach nichts fragte und mich auch kaum je rührte“, schreibt Cristoff, „[...] wurde ich zu einer Art Blitzableiter, einer menschlichen Antenne. Die Geschichten kamen zu mir, die Umgebung machte mich zu ihrer ‚Bauchrednerin’.“ Das Absichtslose der mündlichen Erzählung bekam nachträglich Struktur und Form durch die behutsame literarische Bearbeitung, die fremdartige und bisweilen erschreckende Intensität der Geschichten wirkt über das Einzelschicksal hinaus. Ihr liegt einer Unmittelbarkeit der Begegnung zugrunde, die Taktgefühl und Akzeptanz voraussetzt, ein unausgesprochenes Übereinkommen zwischen Beobachtetem und feinfühlig registrierender Beobachterin.

„Die herrenlosen Hunde, die durch Cañadón Seco streunen“, schreibt Cristoff, halfen ihr, „mit eindeutiger Klarheit wahrzunehmen, was mir in anderen Fällen bloß verschwommen ins Bewusstsein trat: den Augenblick, in dem der Zauber dahin ist.“ Eines Mittags griffen die sonst schlafenden und sie duldenden Tiere, auch sie Ausgestoßene und an manchen Orten zahlreicher als die Einwohner, die plötzlich unerwünschte Besucherin an. Der schmale Grat von Respekt und gegenseitiger Achtung war aus dem Gleichgewicht. Es war Zeit, zu gehen. Ob die von ihr Porträtierten das Buch gelesen hätten, wurde Sonia María Cristoff am Ende des Podiumsgesprächs gefragt. Sie wisse es nicht, glaube es aber kaum, nur einer hätte sich gemeldet und war erstaunt. Er sei, bemerkte sie scherzend, ihr vielleicht aufmerksamster Leser, und es sei gut, dass ihr Buch auch die Reisenden erreicht habe, dort in der Abgeschiedenheit des patagonischen Niemandslandes, der Terra incognita vergessener Seelen.

Literaturangaben:

María Sonia Cristoff: Patagonische Gespenster. Reportagen vom Ende der Welt. Aus dem Spanischen von Peter Kultzen. Berenberg Verlag, Berlin 2010. 288 S., 25 Euro.

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