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Taschenbuch- ausgabe 9.90 Euro

Frank Göhre: Mo. Der Lebensroman des Friedrich Glauser.

Der Schriftsteller Friedrich Glauser war ein ruhelos Getriebener und Begründer einer neuen, sozialkritischen Kriminalliteratur. Der Hamburger Krimi- und Drehbuchautor Frank Göhre erkundet die Leerstellen eines unsteten, zerrissenen Lebens.

Monika Thees, © Berliner Literaturkritik

Er ist der Schutzpatron des „Syndikat“, der Vereinigung deutschsprachiger Kriminalautoren, sein Name ziert seit zwanzig Jahren einen der bedeutendsten Autorenpreise des Genres. Dürrenmatt und viele jüngere Krimi-Autoren wurden stark von ihm beeinflusst. Viele kennen seinen „Wachtmeister Studer“, den knorrigen Ermittler, der mit Intuition und Menschenkenntnis tragische, zumeist den sozialen Umständen geschuldete Fälle löst. Von ihm, dem Autor selbst, ist meist wenig bekannt, und wenn, dann nur, dass er süchtig war, ein Junkie, der schrieb, der sich ruinierte. Das Leben des Friedrich Glauser ist übervoll an Brüchen und Lücken, voller Fragezeichen und weißer Räume. Seit früher Jugend stand er unter Kuratel, es existieren amtliche Berichte, Krankenhausprotokolle, Selbstzeugnisse. Doch die dokumentierten Fakten ergeben nur ein äußeres Gerüst, sie erklären kein Rätsel, keinen Menschen.

Friedrich Glauser, 1896 geboren in Wien, 1938 gestorben in Nervi bei Genua, schrieb Kriminalromane und -novellen, den Legionärsroman „Guarrama“, autobiografische Skizzen, einige Dutzend Erzählungen, Feuilletons und Rezensionen. Er war ein genialer Krimi-Autor, ein „Magier der Atmosphäre“ – und ein unsteter, zerrissener Mann: „3 Jahre Landerziehungsheim Glarisegg. Dann 3 Jahre Collège de Genève. Dort kurz vor der Matura hinausgeschmissen … Kantonale Matura in Zürich. 1 Semester Chemie. Dann Dadaismus“, schrieb er über sich in einem 1937 verfassten Brief. Von seinen zweiundvierzig Lebensjahren verbrachte Glauser über acht in Irrenhäusern, psychiatrischen Anstalten und Kliniken, „1 Jahr (1919) in Münsingen interniert. Flucht von dort. 1 Jahr Ascona. Verhaftung wegen Mo. Rücktransport. 3 Monate Burghölzli (Gegenexpertise, weil Genf mich für schizophren erklärt hatte) ...“. Die Liste ließe sich fortsetzen, sie ist lang.

Durchgängig ist das Unstete in Glausers Leben, seine Unrast und chronische Not. Er arbeitete als Handlanger, Tellerwäscher, Gärtner, verdingte sich in der französischen Fremdenlegion, in den belgischen Kohlengruben. Er stahl, log, fälschte Rezepte und Unterschriften, bewegte sich in den Grauzonen der Kriminalität. Er flüchtete immer wieder, aus Geldmangel, vor drohender Inhaftierung, aus der Beziehung zu Frauen. Oft war sein Aufenthalt unbekannt. Zürich, Basel, Winterthur, Münsingen, die Waldau-Kolonie Schönbrunn, Marokko, dann Paris, La Bernerie in der Bretagne und schließlich Nervi. Die Orte wechselten, die Suche blieb. Nur zwei Konstanten durchziehen sein Leben: das Schreiben und eine unbeherrschbare Sucht. Erfolglos versuchte er mehrmals den Entzug, er wurde immer rückfällig, blieb zeitlebens abhängig von Morphium, von „Mo“, wie er es fast zärtlich nannte.

„Mo“ nennt auch der in Hamburg lebende Krimi- und Drehbuchautor Frank Göhre, „Seelenlandschaften“ (2009), „Abwärts“ (2008, der Roman nach dem Kinofilm mit Götz George), seine literarische Annäherung an Glauser. Beide verbindet der Gleichlaut ihrer Initialen, das mag Zufall sein und ohne Bedeutung. Vielleicht teilen sie eine gewisse Umtriebigkeit, die Suche nach Glück, Anerkennung. Egal wie, eine innere Affinität besteht und seit 1980 ist Göhre auf Glausers Spuren. Nach der Herausgabe seiner Romane (mit ausführlichen Nachworten) erschien 1988 der Bildband „Zeitgenosse Glauser“, 2008 folgte der biografische Roman „Mo“. Jetzt liegt dieser als Taschenbuch vor, eine Mischung aus Fakten und Fiktion, mit Empathie und Verständnis, nicht wertend, sondern äußerst einfühlsam geschrieben.

Seelische Abgründe ziehen an, nicht der etablierte, satt-glatte Durchschnittsbürger fasziniert, sondern das Radikale einer Existenz mit ihren dunklen, komplexen Seiten. Göhres „Mo. Der Lebensroman des Friedrich Glauser“ entwirft eine Möglichkeit, eine Variation, er befreit Glausers Geschichte von der strengen Chronologie, folgt den Verästelungen seiner Lebenswege, füllt die Leerstellen mit literarischer Wirklichkeit. Dies wäre nicht möglich ohne profundes Wissen, die intensive Auseinandersetzung und die Kenntnis von Bernhard Echtes kommentierter Werkedition. Doch nicht die äußere Faktenfülle interessiert, Göhre komprimiert, entwickelt Szenen, die knapp, klar und beispielhaft sind für die Erfahrungs- und Empfindungswelt Glausers, seine lebenslange Suche, seine Kunst, sein Leiden.

Kindheit, Jugend, der strenge, herrschsüchtige Vater, „ein Dr. phil., Professor an der Handels-Akademie. Patient bezeichnet ihn als ‚alttestamentarischen Gott’. Gottvater. Sein langer Bart. Sein zürnendes Grollen. Hat nach dem frühen Tod wieder geheiratet. Ehe hält sieben Jahre. Dann Trennung. Wieder Heirat“, so steht es in den Krankenakten. „Patient wird ... wegen ‚liederlichem und ausschweifendem Lebenswandel’ entmündigt und unter Vormundschaft gestellt.“ Alle Therapieversuche, die zahlreichen, gut gemeinten, auch die nach der Methode Freuds, erwiesen sich als nutzlos, Glausers Drogensucht blieb resistent. „Auch als wir mit allen möglichen Mitteln versuchen, ihn zu überreden, wird er leicht gereizt, sagt ein paar kleine, bissige Frechheiten, erklärt, er kenne alle psychiatrischen Tricks und wir könnten nichts Neues beifügen.“

Göhres „Mo“ ist keine psychiatrische Studie über einen Süchtigen, auch kein Schlüsseltext, der erhellend Neues, gar Spektakuläres aufdeckt zum Fall „Glauser“. Es geht um eine vorsichtige Annäherung an eine Lebenswirklichkeit, die ihm, so ist zu vermuten, keine andere Wahl ließ als die unstillbare Sucht, den frühen Tod – und das Schreiben. Für denjenigen, der Glausers Werke nicht kennt, wird sich vieles im „Lebensroman“ nicht erschließen, was sich mitteilt, geht jedoch weit darüber hinaus: Es sind die Möglichkeiten eines gelebten Lebens – geschrieben als Erzählung, die einem an sich und den Umständen leidenden Menschen mit großer Empathie und Offenheit begegnet, einem, der trotz aller Niederlagen selbst zur Vaterfigur wurde: stil- und richtungsbildend für die neuere deutschsprachige Kriminalliteratur. (8.7.2010)

Literaturangaben.

Frank Göhre: Mo. Der Lebensroman des Friedrich Glauser. Unionsverlag, Zürich 2010. 189 S., 9,90 Euro.