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Demonstration: Wir sind das Volk! Schon vergessen?

21. Oktober 2011

Occupy Berlin: Eine Demokratie-Bewegung entsteht


(Foto: Stefan Jalowy/stj)
Nach den globalen Protesten am 15. Oktober entsteht in Deutschland eine breite Demokratie-Bewegung

Von Stefan Jalowy

Berlin, 21.10.2011. Sie ist noch klein, doch sie wächst mit der Dynamik der vernetzten Internet-Gesellschaft und sie hat Inhalte zu bieten, die das bisherige Spektrum der politischen Meinungs- und Ideologieangebote sprengen. Gerechtigkeit, Humanität und die Entwicklung einer neuen und fundamental-demokratischen Gesellschaft, in der jede Stimme und jede Idee zählt. Nach dem Motto „gedacht – gemacht“ wirft eine neue Demokratie-Bewegung das Stigma des traditionellen „braven deutschen Untertans“ kurzerhand über Bord und schickt sich an, die Zukunft der Gesellschaft – nicht nur in Deutschland – in die eigenen Hände zu nehmen. Die Rede ist nicht etwa von der „Piraten-Partei“, die Zigtausende Protestwähler in die Parlamente gespült haben.

Die Rede ist von den Gruppen, die als Initiatoren zu den „Occupy Berlin / Frankfurt / Hamburg / Wall Street / London“- Demonstrationen und Protest-Camps aufgerufen haben – und Zehntausende Bürger aus alle Gesellschaftsschichten auf die Straßen, Plätze und vor Banken und Parlamente bewegten. Die „Occupy“-Bewegung schickt sich an, weit mehr als nur ein spätherbstliches Frustfeuer gegen die Auswüchse der globalen Finanzmafia und eines hemmungslos entfesselten Casino-Kapitalismus zu sein. Eine interkulturelle, globale und klassenübergreifende Demokratie-Bewegung formiert sich und sie will nicht nur protestieren – sondern die Herrschaft über die eigenen Existenzen, Gesellschaften und Perspektiven übernehmen. Nicht mit Gewalt, sondern sehr legal. Auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung und in Übereinstimmung mit unserem Grundgesetz, unserer Verfassung. Die etablierten Parteien und ihre jeweiligen Klientelen sind überrascht.

Ein goldener Spätsommertag
, an dem die Bürger in den deutschen Großstädten sich in den Stadtzentren treffen und auf friedlichen Demonstrationen den Druck aus ihrem Meinungs-Dampfkochtopf ablassen „dürfen“. Und die Bundeskanzlerin äußert Verständnis für das „berechtigte Gerechtigkeitsverlangen der Menschen“ und lässt über ihren Sprecher Steffen Seibert ausrichten: „Die Kanzlerin kann auch persönlich verstehen, dass die Menschen auf die Strasse gehen.“ So. Und am Montag gehen alle mit frischem Mut wieder an die Arbeit, studieren und lernen brav oder schreiben weiter Bewerbungen um einen Platz in der Erwerbsgesellschaft. Während an den Börsen, in den Banken und Hedgefonds-Büros weiter „business as usual“ betrieben wird und die Transaktionen der Verluste aus den privatwirtschaftlichen Finanz-Roulettepartien auf die längst bis in die Steinzeit verschuldeten staatsöffentlichen Kassen als „alternativlose“ Rettungsschirme legitimiert werden sollen. So oder so ähnlich war es bisher ja immer.

Der Bürger darf gelegentlich Dampf ablassen und hat dann wieder weiter wie gewohnt Mehrwert, Wertschöpfung, BIP oder wenigstens als Konsument Umsätze zu generieren. Doch etwas hat sich verändert. Zwar kümmern sich die Bürger weiter um ihre existentiellen Aufgaben und Pflichten – aber nach Feierabend gehen sie zur “asamblea“, der Versammlung vor dem Reichstag oder der HSH-Bank. Und diskutieren, wie die nächsten Schritte der Bewegung aussehen werden und realisiert werden können. Es geht längst nicht mehr nur um Protest. Diese Bewegung entwickelt Alternativen. Ideen zu fundamentalen Themengebirgen wie sozialem Ausgleich, realisierbaren Formen direkter Demokratie, steuerlicher Gerechtigkeit, Grenzen wirtschaftlicher Macht, gesellschaftlicher Solidarität – weit über Grenzen von Städten, Bundesländern oder Nationalstaaten hinaus.

Auf von der „Piratenpartei“ gekaperten „Piraten-Pads“ kann jedermann an Konzepten, Plänen, Anträgen zu Demonstrations-Veranstaltungen, Positionspapieren oder Aktionsplanungen mitschreiben und „in real time“ per Chat oder Pad-Kommentar mitdiskutieren. Kollaborativ im Kollektiv, die kollektive (Schwarm-)Intelligenz nutzend, über Träume und Utopien schwärmend und zugleich immer wieder auf dem Boden der Tatsachen neue Wirklichkeiten erschaffend. Das ist der Stil dieser „occupy“-Bewegung. Bewusst wollen die Initiatoren die Hierarchien flach halten. Sie sprechen sich gegen die Entwicklung einzelner „Persönlichkeiten“ als Leitfiguren oder „Köpfe“, die als Sprachrohr in den Medien für die Bewegung werben sollen, aus und ermutigen statt dessen jeden Bürger, der sich berufen fühlt, sich nach Absprache mit dem Plenum als Interviewpartner, Talkshow-Gast oder Pressekontakt zu betätigen. Und das ist neu für die Medien. Egal ob „taz“ oder das einstige Nachrichtenmagazin „Der SPIEGEL“ – Anfragen für Interviews oder Hintergrund-Informationen gehen an eine Mailadresse des Kollektivs…und es wird sich dann eben der Bürger oder die Bürgerin melden, der oder die die von der Mehrheit des „asamblea“-Plenums gebilligten Informationen und Standpunkte vertreten und kommunizieren möchte.

Klingt kompliziert – aber unsere Gesellschaft hat zumindest in größeren Teilen den Diskurs, das Diskutieren in Chats, Foren und Newsrooms seit über einem Jahrzehnt gelernt. Und so wächst eben unter Nutzung dieser auch für demokratische Strukturen neuen Kommunikationstechniken nicht nur ein gemeinsam entwickeltes, im Konsens verabschiedetes neues Ganzes heran. Sondern es wird genau auf diesem Weg auch weiterverbreitet. Über klassische Medien, internetbasierte Netzwerke, Mailinglisten, Blogs, Facebook und die ganze breite Palette sozialer Netzwerkplattformen im Netz. Das Entscheidende aber ist das Zusammenwachsen im Zusammentreffen all dieser sehr Menschen mit ihren zum Teil äußerst unterschiedlichen Biografien und Standpunkten auf den Versammlungen, den in Referenz zum Ursprung der „Occupy“-Bewegung auf spanisch benannten „asambleas“. Gerade weil keine Parteien oder feste Gruppen sich dort als Platzhirsche der öffentlichen Diskussion etablieren (sollen), bleiben Ideologien außen vor und werden sowohl Gemeinsamkeiten identifiziert als auch Brücken des Konsenses über bisherige Meinungsklüfte gebaut.

Wenn auch die kalte Jahreszeit begonnen hat und eine Revolution im winterlichen öffentlichen Raum es deutlich schwerer hat Zulauf und Mitwirkende zu gewinnen als ein demokratisches Frühlings- oder Sommermärchen auf sonnig beschienenen lauschigen Plätzen, ist der Wille immens stark, sich trotz Schnee und Eis und vergrippten Schniefnasen die Demokratie-Bewegung nicht einfrieren zu lassen. Aktuell laufen verschiedene Anträge auf Erteilung von Genehmigungen zu Mahnwachen, Protest-Camps und Diskussions-Foren auf den zentralen Plätzen der Hauptstadt. Eindeutig gegen eine illegale Besetzung hat man sich im Plenum ausgesprochen, denn erstens werden von den „occupy“-Aktivisten natürlich auch Polizisten als Teil jener „99%“, deren Interessen und Lebensgrundlagen von einer globalen Finanzmafia und einer sich vom Bürger entfernten Politikerkaste negativ betroffen sind, erkannt und zweitens versteht man einen real vorgeschriebenen Ordnungsrahmen als Ausgangskriterium für jedwede Art breitester Bürgeraktionen. Denn nicht Anarchie oder die Auflösung jeglicher bürgerlicher und damit staatlicher Ordnung ist das Ziel – sondern eine vom Bürger unmittelbar gelebte neue Demokratie. Am Samstag, dem 22.Oktober, soll die nächste Demonstration auf dem Alexanderplatz stattfinden.

Stefan Jalowy