Posts mit Schlüsselwort ‘Anders Fogh Rasmussen’

Rückzug, Reform, Routine: NATO-Einsätze ohne UN

27. Oktober 2011

NATO-Generalsekretär Rasmussen überrascht in Berlin mit neuen Überlegungen für künftige militärische Interventionen des Bündnisses

Von Stefan Jalowy

Rasmussen und de Maizière am 27.10.2011 in Berlin. (Foto: Copyright NATO)

Berlin, 27.10.2011. Verteidigungsminister Thomas de Maizière (CDU) scheint in den letzten 72 Stunden bei der Neugliederung und Verkleinerung der Bundeswehr eine wichtige Schlacht erfolgreich geschlagen zu haben. Seine Chefin Angela Merkel (CDU) sonnt sich dank Kanzlerin-Mehrheit des Bundestags nach dem Krisengipfel von Brüssel gemeinsam mit ihren EU-Amtskollegen im Glanz der vorläufigen Hellas- und Euro-Kombirettung. Und Guido Westerwelle (FDP) freut sich, dass er aktuell aus den Schlagzeilen ist und somit ungestört und diskret an den Vorbereitungen zur grossen Afghanistan-Konferenz Anfang Dezember in Bonn merkeln – Pardon, werkeln darf. Bei den deutschen Alliierten herrscht an diesem grauen Oktober-Donnerstag ruhige See – da stört es nicht weiter, wenn der Admiral der transatlantischen Staatenflotte mal kurz auf einen Routinebesuch in Berlin vorbeischaut. Um mit einer allerdings erstaunlichen Überraschung dann für eine Art transatlantisches Seebeben zu sorgen – das durchaus für einen sicherheitspolitischen Tsunami in den NATO-Staaten und noch mehr in Russland, China und einer Reihe von multinationalen Organisationen sorgen dürfte. Von den Vereinten Nationen ganz zu schweigen.

Nach Routinebesuch sah es auch deshalb aus, weil Anders Fogh Rasmussen heute der internationalen Hauptstadtpresse ein beinahe identisches Statement zur strategischen Lagebewertung im NATO-/ISAF-Einsatzland Afghanistan vorträgt wie bei seinem Berliner Routinebesuch vor einem Jahr, am 22.10.2010.  D a m a l s  stellte der NATO-Generalsekretär fest: „Der Schlüssel für die Übergabe der Verantwortung für die Sicherheit ist Ausbildung; Ausbildung der afghanischen Soldaten, Ausbildung der afghanischen Sicherheits- und Polizeikräfte.“

NATO-Generalsekretär Fogh Rasmussen sagte heute, mit dem Abzug der ISAF-Kampftruppen bis 2014 ändere sich der Charakter des Militäreinsatzes. Der Fokus werde künftig auf der Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte liegen. Nichts Neues also – wenn man davon absieht, dass der höchste politische Amtsträger der NATO wohl nur zu gut weiß, warum er auf den gleichen zentralen und waidwunden Punkt der Strategie für die Zukunft Afghanistans wie vor einem Jahr verweist. Denn ob die afghanischen Sicherheitskräfte dem bis 2014 zweifellos zunehmenden gewaltsamen Einfluss seitens der Taliban als auch der verschiedenen Netzwerke gewiefter wie skrupelloser Warlords und Drogen-Paten gewachsen sein werden – ist nach derzeitigem Stand mehr als fraglich.

Vor wenigen Tagen verwies Thomas Wiegold, einer der profiliertesten sicherheitspolitischen Journalisten im Land, in seinem Blog „Augen geradeaus!“ auf die ernüchternden Berichte afghanischer Polizeichefs aus verschiedenen Provinzen, die der BBC-Journalist Bilal Sarwary via twitter veröffentlicht hat. „In meinem Bezirk zahlen Taliban und kriminelle Gruppen mehr Geld als die Polizei. Darum gehen die meisten Leute zu den Taliban.“ (Polizeichef Bezirk Baghlan) „In meinem Bezirk an der Grenze zu Tajikistan arbeiten alle zusammen gegen uns: Taliban, Drogen-händler und Kriminelle“ (Polizeichef Bezirk Kunduz) „Die Gehälter kommen nie pünktlich. Jetzt mit sechs Monaten Verspätung und manchmal kommt tagelang keine Verpflegung.“(Polizeichef Distrikt Nuristan) Andere Polizeichefs berichten, dass sie Taliban, Kriminelle und Mitglieder des militanten Haqqani-Netzwerks verhaften – und zusehen müssen, wie die zuständigen Richter sie wieder freilassen. „Ich traue manchen aus meiner eigenen Polizei nicht. Sie sind schwer auf Haschisch und Drogen. Aber er ist das einzige Personal, das ich habe“, klagt ein Polizeikommandeur aus der Provinz Uruzgan. Und dass die Taliban, kriminelle Mafiabanden und regionale Warlords Polizisten und Angehörige der afghanischen Nationalarmee abwerben und „umdrehen“, damit sie Selbstmordanschläge auf ISAF-Einheiten und die einheimischen Sicherheitskräfte verüben und sich an Angriffen auf die „Fremden“ beteiligen, soll den in Afghanistan tätigen Nachrichtendiensten seit geraumer Zeit bekannt sein. Und damit auch dem NATO-Generalsekretär und seinen Berliner Gastgebern im Kanzleramt und den Ministerien.

Der phasenweise Abzug der unter Beteiligung von aktuell 47 Ländern aufgestellten ISAF-Einheiten aus Afghanistan ist nicht nur ein Teil der politischen Strategie für die Zukunft des südasiatischen Landes. Er ist ebenso ein Rückzug aus einer Verpflichtung des Bündnisses sowohl gegenüber den Vereinigten Staaten wie auch den Vereinten Nationen. In Zukunft will die NATO sich bei der Entscheidung über militärische Interventionen des Bündnisses gegebenenfalls deutlich von den Vereinten Nationen emanzipieren. Bislang herrschte aus Gründen der globalen Diplomatie in der NATO und den Parlamenten ihrer Mitgliederländer faktisch eine völkerrechtlich nicht zwingend erforderliche Konsenssehnsucht mit dem zentralen Krisengremium der UN, dem Weltsicherheitsrat.

Auf der „NATO Review Conference“ der „Stiftung Wissenschaft & Politik“, des einflussreichsten sicherheitspolitischen ThinkTanks, der Bundesregierung und Parlament berät, erklärt Generalsekretär Rasmussen dann zwischen den Besuchsterminen bei Merkel, Westerwelle und de Maizière den Konferenzteilnehmern scheinbar beiläufig eine wesentliche Neuerung der künftigen NATO-Strategie.

Ein NATO-Militäreinsatz nach dem Muster der Intervention des Bündnisses in Libyen solle künftig auch ohne ein zuvor erteiltes Mandat der Vereinten Nationen denkbar sein, so Rasmussen in einer Diskussion mit Teilnehmern der Konferenz: „Wenn der Zweck gerechtfertigt und die rechtliche Grundlage stark ist, können wir unsere Werte mit Gewalt verteidigen.“ Ein solches Mandat sei zwar wünschenswert, führte der Generalsekretär weiter aus, aber ein UN-Mandat als Bedingung für militärische Interventionen der NATO „würde den Mächten in die Hände spielen, die unsere Werte nicht teilen.“ Man werde jede einzelne Krisensituation genau prüfen, dabei sei eine mögliche Bedrohung der Grenzen des Bündnisses ein zentrales Kriterium. Im Fall eines Bürgerkriegs in Libyen hätten die südeuropäischen Mittelmeeranrainer eine kaum überschaubare Welle von Flüchtlingen befürchten müssen. Die Frage, in welchem Verhältnis sich dann künftige militärische Einsätze der NATO zum Völkerrecht befinden, ist von Rasmussen nicht angesprochen worden.

Den Libyen-Einsatz der NATO, an dem sich Deutschland nicht beteiligte und dessen Zustimmung im UN-Sicherheitsrat es sich per Enthaltung faktisch verweigerte, sieht Generalsekretär Rasmussen als erfolgreich abgeschlossen an. Um exakt 23:59 Uhr libyscher Ortszeit werde die „Operation Unified Protector“ enden. Sie sei ein Musterbeispiel für die Entschlossenheit des Bündnisses, Freiheit und Menschenrechte zu verteidigen – auch jenseits der Grenzen der NATO. „Wenn wir die Verantwortung zum Handeln haben, verfügen wir auch über die Fähigkeit zu handeln. Und wenn wir zu handeln haben, werden wir handeln.“ Dass allerdings die an den Luftangriffen beteiligten NATO-Streitkräfte zum Beispiel aufgrund des hohen Munitionsbedarfs und dessen Kosten zum Teil an die Grenzen ihrer Möglichkeiten gestoßen sein sollen – thematisierte Rasmussen nicht.

Die Finanzkrise und die Beinahe-Staatspleiten mehrerer (nicht namentlich genannter) Länder sprach er indirekt an. Steigende Defizite und tiefe Verschuldungen der Staatshaushalte könnten zu einer Schwächung des Verteidigungpotentials dieser Länder führen. „Aber im Bestreben unsere Bilanzen auszugleichen dürfen wir unsere Sicherheit nicht aufs Spiel setzen. Weil unsere Prinzipien wertvoll sind – und unsere Freiheit unbezahlbar.“ Ohne Frage resultiert ein Teil der neuen NATO-Strategie „Smart Defence“ aus der notwendigen Einsicht, künftig für die gemeinsame Verteidigung nicht „mehr auszugeben, aber besser auszugeben.“ Im Klartext würde das für die NATO-Mitglieder bedeuten, dass „wir den Fähigkeiten den Vorrang geben müssen, die wir am meisten benötigen. Uns darauf spezialisieren, was wir am besten können. Und multinationale Lösungen für gemeinsame Probleme suchen. Das ist Smart Defence. Der Schlüssel unsere Fähigkeiten zu verbessern und zugleich die Verteidigungslasten fair zu verteilen. Das ist der richtige Ansatz für die richtigen Fähigkeiten zum richtigen Preis.“

Rasmussen lobte in diesem Zusammenhang die von Verteidigungsminister de Maizière betriebene Bundeswehrreform und ihr Ziel, mit geringeren Stärken und Kosten eine höhere Spezialisierung und damit Effizienz zu gewinnen. Der Inhaber der Befehls- und Kommandogewalt über die Bundeswehr hatte einen Tag zuvor die Planungsdetails für den Umbau der deutschen Streitkräfte bekannt gegeben. Rasmussen: „Das ist die Art von Reformen, wie wir sie benötigen.“ Er sehe Deutschland als einen Motor für „Smart Defence“.

In welchem Rahmen damit die Mitglieder der NATO sich für alle Zukunft auf Gedeih und Verderb oder auch „alternativlos“ einer Zwangsmitgliedschaft im Bündnis unterwerfen bleibt ebenso zu bedenken wie die Frage, über welche Souveränität die NATO-Länder noch verfügen würden – sollte eines Tages der (derzeit eher undenkbare) Fall des Bruchs oder der Auflösung des Bündnisses eintreten. Es ist nicht davon auszugehen, dass die Vereinigten Staaten als stärkste militärische Komponente der NATO auch nur einen Teil ihrer Fähigkeiten aufgeben würden. Eher würden die USA wohl Flugzeugträger in China leasen. Europäische Nationen hingegen wären in einem solchen Fall auf regionale Allianzen oder binationale Kooperationen angewiesen, wie sie es seit November 2010 zwischen Großbritannien und Frankreich gibt. Die Teilstreitkräfte beider Nationen stellen eine gemeinsame Brigade für Einsätze im NATO-, EU- und UN-Rahmen auf. Der neue Verband soll durch Luft- und Seeunterstützung beider Streitkräfte verstärkt werden. Bereits vergangenen Mai haben die ersten Mitglieder der legendären britischen „Coldstream Guards“ im französischen „Centre d’Entraînement aux actions en Zone Urbain“ (CENZUB) den Orts- und Häuserkampf geübt.

Mit Bundesverteidigungsminister Thomas de Maizière tauschte sich Rasmussen bei seinem Besuch im Ministerium über weitere Details für den im kommenden Mai geplanten NATO-Gipfel in Chicago aus. Weitere Themen waren die angespannte Situation im Nord-Kosovo sowie die weitere Entwicklung im Nahen Osten und Nord-Afrika. Routine auch beim Treffen zwischen Rasmussen und Aussenminister Westerwelle – die sicherheitspolitischen Themen der beiden Politiker sind im Wesentlichen identisch mit denen des Ressortchefs Verteidigung. Ausgenommen vielleicht Details zur Afghanistan-Konferenz, die am 5. Dezember in Bonn stattfinden soll und auf der wesentliche Weichen für eine möglichst friedliche Zukunft am Hindukusch gestellt werden sollen und zu der 90 Delegationen mit mehr als 1.000 Teilnehmern unter Vorsitz der afghanischen Regierung zusammentreffen werden.

Gemeinsam mit Bundeskanzlerin und CDU-Parteivorsitzende Angela Merkel trat NATO-Generalsekretär Fogh Rasmussen am frühen Abend im Kanzleramt vor die Presse. Die Regierungschefin betonte die Fortsetzung der deutschen Unterstützung für eine demokratische Zukunft Afghanistans – auch nach dem erfolgten Abzug der letzten von derzeit noch rund 130.000 ISAF-Kampftruppen 2014. Der Prozess der Übergabe der Sicherheitsverantwortung an die Afghanen sei auf einem „vernünftigen Weg, auch wenn noch viel zu tun bleibt.“ Deutschland werde seine Verantwortung gegenüber Afghanistan nicht aufgeben – und werde sich auch nach Ende der ISAF-Mission an der Ausbildung afghanischer Sicherheitskräfte beteiligen.